Leben 22 – Der Guillotinenklingenschärfer

Leben 22 – Der Guillotinenklingenschärfer
Louis Phillipe Trancheur (1755 – 1802)

Leben 22 war eines der bewegtesten, denn es war die Zeit des großen Umbruchs der französischen Revolution. Ich lebte unter anderem in Paris und bekam Einblick in Vieles, was man später in den Geschichtsbüchern lesen würde.

Der Anfang war unspektakulär. Ich arbeitete auf dem Bauernhof meines Vaters, in einem Dorf nicht all zu weit von Paris entfernt. Mein Vater war streng und hielt mich für nicht geeignet für die bäuerliche Arbeit. Vermutlich war ich das auch nicht, denn was ich am meisten liebte war, mir einen schönen Platz in der Natur zu suchen und vor mich hin zu träumen. Oft lag ich auf dem gerade gemähten Kornfeld in der Abendsonne und spann meine Träume.
Ich liebte es, mir Geschichten auszudenken und verschwand dann völlig in meinen Phantasiewelten. Dann befand ich mich in Versailles unter den Bediensteten und hatte eine Affäre mit einer der feinen Damen, die sich während eines Maskenballs im Schloss verirrt hatte.
Oft träumte ich von Marie Antoinette, mit der ich mich besonders verbunden fühlte, nachdem ich erfahren hatte, dass sie genau so alt und sogar am selben Tag geboren war, wie ich. Mit 14 hatte sie bereits den späteren König geheiratet und so begab ich mich ab und an auch in dessen Rolle. Da hatte ich noch keine Ahnung davon, dass es später auch noch eine andere Art von Verbindung zwischen uns geben sollte.

Aufgrund der Not, die zu dieser Zeit in Paris herrschte, trieb es immer mehr Menschen aufs Land und so gab es auch bei uns immer wieder Männer und Frauen, die Ihre Arbeit gegen Bett und Brot anboten und kaum einen Lohn bekamen. Ich kann mich noch an den Spruch erinnern: „Pain et lit – ça suffit!“ Diese Menschen taten mir leid, aber ich hatte auch Angst vor ihnen, denn durch die Jahre der Not, hatten sich bei vielen von ihnen die Werte verändert und so gab es immer wieder gewalttätige Szenen, die für mich mit meiner Träumer-Natur schwer zu ertragen waren.

Als ich etwa 22 Jahre alt war,  nahm mein Vater eine verarmte Adelsfamilie auf, was für mein Leben viel Neues brachte. Zum Einen hatten wir nun in der großen Stube ein Klavier stehen und Sophie, die Tochter der Familie spielte wundervolle Melodien. Zum Anderen hatte ich mich sofort in sie verliebt – und das war nicht in Ordnung, denn sie war erst vierzehn Jahre alt. Natürlich respektierte ich das und ich gab mich ihr nie zu erkennen. Doch wenn sie mir Klavierunterricht gab, fiel es mir schwer, mich auf die Musik zu konzentrieren.
Immerhin lernte ich das Klavierspiel ganz passabel und als Sophie mit ihrer Familie nach zwei Jahren wieder auszog, verschwand zwar meine große Liebe, aber nun nutzte ich die Zeiten, in denen es weniger Arbeit gab, um meine Träumereien am Klavier fortzusetzen.

Mit 28 Jahren verabschiedete ich mich aus der Welt meiner Eltern. Meine Mutter zu verlassen fiel mir nicht leicht und das Desinteresse meines Vaters schmerzte. Doch ich hatte eine wundervolle Arbeit gefunden. Ein deutscher Klavierbauer, Tobias, hatte in Paris eine Werkstatt aufgemacht und suchte Mitarbeiter. Es gab viele Bewerber, aber ich bekam die Stelle, weil es unter den normalen Arbeitern keinen gab, der ein Klavier von einer Querflöte unterscheiden konnte. Klavierspielen konnten ansonsten nur die Reichen und natürlich würde keiner von ihnen je als Klavierbauerhelfer arbeiten.
Mein neuer Meister war froh, jemand wie mich gefunden zu haben, der das Instrument einigermaßen beherrschte und der dennoch auch in technischen Dingen nicht unbedarft war. Die Ungeschicklichkeit, die mir mein Vater vorgehalten hatte, war vollkommen verschwunden und ich denke, das lag daran, dass ich an diesem Thema, am Instrument, an der Musik, wirkliches Interesse hatte. Und Tobias mochte wohl auch meine träumerische Seite – auch er war nicht der Mensch, der sich nur mit logischen, technischen oder materiellen Dingen beschäftigte. In ihm war auch ein Phantasierer und Erfinder versteckt – ja, er war ein Romantiker wie ich.

Es war dies die schönste Zeit in Leben 22 und sogar als die Revolution begann, waren da noch zwei, drei unbeschwerte Jahre und ich führte ein Leben, das mich die meiste Zeit über vergessen ließ, dass um mich herum geschossen, erstochen und vergewaltigt wurde.
Tobias war nicht so unbeschwert und erst spät wurde mir klar, wie blind ich lange Zeit für seine Sorgen gewesen war. Denn natürlich verkaufte man in solchen Zeiten nur selten ein Klavier und so standen nun mehrere der schönen Instrumente in der zu klein gewordenen Werkstatt herum. Vermutlich lebten wir beide schon längere Zeit von den Ersparnissen des Meisters.

Doch dann trat der Lauf der Geschichte in unser Leben und veränderte mit einem Mal alles. Die Revolution wollte es jetzt wissen!
Tobias war ein Meister im Umgang mit Holz und Metall. Und so kam der große Auftrag: Er sollte eine Apparatur konstruieren, die es einfacher machte, die vielen Enthauptungen durchzuführen, die gerade an der Tagesordnung waren. Ich kann mich noch immer an das Gefühl erinnern, das diese Nachricht in mir auslöste. Es war als würde mein eigener Kopf gerade in einem Weidenkorb plumpsen.
Tobias hingegen strahlte. Er fand das wunderbar und sah darin seine Rettung. Und endlich hatte er eine Aufgabe, die seinen Erfindergeist ganz in Anspruch nahm. Zwei Tage lang saß er an seinem Schreibtisch, und erstellte Skizzen. Dann wusste er, wie die Maschine aussehen musste und wir fingen sofort an, daran zu arbeiten. Noch mal zwei Tage später stand sie da: die Guillotine!

Die ersten praktischen Versuche wurden an Tieren und Leichen durchgeführt – zum Glück musste ich dabei nicht anwesend sein. Es klappte noch nicht wie geplant und so war klar, dass noch Nachbesserungen erforderlich waren. Nicht immer waren die Köpfe gerollt – manchmal schaffte es die Klinge nicht, beim ersten Mal den Kopf vom Rumpf zu trennen. Vermutlich wäre der Delinquent dennoch nach dem ersten Versuch nicht mehr am Leben gewesen – aber was wäre das für eine Hinrichtung! Was würde das Volk sagen? „Es muss „krack“ machen“ sagte Tobias und machte sich wieder an die Arbeit. Dass dann der entscheidende Tipp von mir kam, machte mich im Nachhinein nicht glücklich.

„Die Klinge muss schräg verlaufen – diagonal,“ meinte ich und machte eine dementsprechende Bewegung. Die Schneide war bisher parallel zum Boden ausgerichtet gewesen, mit einer halbkreisförmigen Aussparung in der Mitte. Mir war klar, dass das so nicht funktionieren konnte. Ich erinnerte mich an meine Arbeit auf dem Kornfeld: Mit der Sense zu mähen hatte mir immer Spaß gemacht, denn es hatte etwas Meditatives – man kam in eine Art Trance und konnte wunderbar vor sich hin träumen. Und das Mähen funktionierte nur, wenn die Scheide schräg in die Halme eindrang, eine Schräge, die sich durch die Form der Sense und die Bewegung beim Mähen ergab. Tobias war ziemlich schnell klar, was ich meinte und so ging es wieder an die Arbeit. Die Schneide der Guillotine verlief nun von rechts oben nach links unten. Vom Opfer aus gesehen.

Das Ergebnis war perfekt und die Köpfe konnten jetzt rollen. Das war dann also mein Beitrag zur Weltgeschichte!

Was nun folgte, war für Tobias Geschäft ein großer Erfolg. Immer mehr der seltsamen Apparaturen mussten angefertigt werden und an immer mehr Plätzen in Paris wurden sie aufgestellt. Dann kamen Bestellungen aus dem ganzen Land und die Größe der Werkstatt reichte nicht mehr aus, obwohl wir schon die Klaviere übereinander gestapelt hatten. Ein größerer Raum musste angemietet werden und zwei neue Mitarbeiter wurden eingestellt. Das angenehme Leben von zuvor nahm für mich ein Ende. Die Neuen waren „echte Handwerker“ – von Klavieren hatten sie jedoch keine Ahnung und mit ihrer derben Art konnte ich nichts anfangen. Ich fühlte mich unwohl.

Tobias hatte das schnell erkannt und so kam ich zu meiner neuen Tätigkeit: Ich würde die Klingen der Guillotinen schärfen, die es in Paris gab. Dass ich mich dabei genauso wenig wohl fühlte, versteht sich. Aber schließlich hatte sich herausgestellt, dass ich Spezialist für dieses Thema war. Gerade ich, der von seinem Vater immer wieder zu hören bekam, er sei zu dumm, eine Sense zu schleifen!

So war ich die nächsten Monate ständig in den Straßen von Paris unterwegs, zu den verschiedenen Plätzen, an denen die öffentlichen Hinrichtungen stattfanden. Ich zog eine Karre hinter mir her, auf der die Schleifmaschine befestigt war. Tobias hatte sie speziell für diesen Zweck entwickelt. Beim Schleifen selbst musste eine breite runde Schleifwalze gedreht werden, mithilfe eines Hebels und einer Dreh-Bewegung wie der eines Leierkastenspielers. Die Maschine war schwer und Paris war auch damals schon groß, sodass ich die meiste Zeit des Tages mit dem Transport beschäftigt war.

Nachdem die Klingen der Guillotinen schon nach ein paar Dutzend Hinrichtungen unscharf wurden, war ich ständig im Einsatz. Ich hatte mir eine Route ausgetüftelt, die mich auf dem kürzest möglichen Weg zu jedem der acht Plätze brachte, an denen die Tötungsapparate standen. Allerdings schaffte ich meist nur einen oder zwei davon am Tag, sodass es eine ganze Woche dauern konnte, bis ich mit allen durch war.

Am Schlimmsten war es für mich jedoch, dass ich nicht von den schrecklichen Szenen der Hinrichtungen verschont blieb. Da man vorher nie genau sagen konnte, wie lange solch ein Spektakel dauerte, wurde ich unweigerlich immer wieder Zeuge der schauerlichen Aktion. Oft musste ich meine Arbeit dann in einer „Pause“ vor dem versammelten Publikum ausführen. Und nicht selten waren die Klingen erst von Blut-, Haar-, oder Knochenresten zu befreien. Immer wieder war ich kurz davor, mich zu übergeben.

Das einschneidendste Erlebnis gab es dann etwa ein Jahr nachdem ich meine neue Tätigkeit begonnen hatte. Wieder musste ich in einer Pause zwischen zwei Hinrichtungen meine Arbeit verrichten und der Platz war voll von Menschen, wie ich es vorher nie erlebt hatte. Seltsame Spannung und Erwartung lag in der Luft und als die Klinge geschärft war und mir einer der Helfer des Scharfrichters half, sie wieder in der Apparatur zu befestigen, wurde mir der Grund klar: „Das müsste scharf genug sein, für die scharfe Königin!“ grinste er mich an.

Marie Antoinette! Und da sah ich auch schon, wie sie von zwei Männern herangeführt wurde. Man hatte ihr ein weißes Gewand angelegt und sie wirkte unbeteiligt und von einem ganz eigenen Stolz. Da war sie – die Frau aus meinen jugendlichen Phantasien. Und ich hatte gerade das Messer für sie gewetzt! Die Menge jubelte und mir wurde heiß und schwindlig. Diesmal konnte ich meine Übelkeit nicht zurückhalten. Als ich das „Krack“ hörte, musste ich mich übergeben.

Dieses Erlebnis war ein Einschnitt in Leben 22. Ich führte meine Tätigkeit weiterhin aus, noch etwa ein bis zwei Jahre, bis sich das Blatt gewendet hatte und der Terror der Hinrichtungen ein Ende fand. Doch was ich gesehen hatte, war zu viel gewesen. Ich fühlte eine Mitschuld am Tode all dieser Menschen, auch wenn mein Verstand mir sagte, dass ich nur meiner Arbeit nachgegangen war.

Auch nach dieser Zeit war ich weiter für Tobias beschäftigt, den die letzten Jahre reich gemacht hatten. Wir waren wieder zu zweit in der ursprünglichen Werkstatt und bauten Klaviere. Aber meinen Frohsinn und meine Unbekümmertheit sollte ich nicht wieder finden.

So gibt es aus diesem Leben auch nichts Außergewöhnliches mehr zu berichten. Mein Tod im Alter von 47 Jahren wurde durch eine Blutvergiftung hervorgerufen, die ich mir durch den Schnitt an einer Rasierklinge zugezogen hatte: Sie war rostig und schlecht geschliffen.

Fazit aus Leben 22:

zu bearbeitende Themen:

Umgang mit Schuld
Zu sich selbst stehen, trotz Ablehnung durch Andere
Sich nicht mehr klein machen und ständig unterordnen
Seinem eigenen Urteil vertrauen
Die Augen nicht vor den Tatsachen verschließen
Aufhören vor unangenehmen Situationen zu fliehen, diese zu beschönigen.

Ergebnis: An jedem Thema wurde gearbeitet, keines jedoch entscheidend verändert oder gelöst.

Aufgabenstellung für Leben 23:

Suche Dir eine Situation, in der du wieder mit diesen Themen konfrontiert wirst.
Alternativ eine Situation in der ein Thema besonders hervorgehoben wird, vorzugsweise „Schuld“.

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